Das Dorf Kagbeni liegt auf knapp 3000m wie eine Oase in einer wüstenartigen Landschaft im Regenschatten des Annapurna-Massivs. Der Fluss Kali Gandaki, dem der Ort sein Wasser verdankt, entspringt an der Grenze zu Tibet, durchstößt den Hauptkamm des Himalaya und entwässert über den Ganges in den Indischen Ozean. In seinem Verlauf fächert das Flussbett immer wieder auf zu Breiten von hunderten von Metern. Die Masse der abgelagerten Sedimente zeugt von der Gewalt der Erosionsprozesse in diesem extremen Naturraum. Jeden Vormittag setzen Talwinde ein, die am frühen Nachmittag regelmäßig Windstärken von 6 bis 7 erreichen.
Vor dem Hintergrund der sich in geologischen Zeiträumen auffaltenden Gebirgswände und der Weite des Flussbetts erscheinen die Aktivitäten der Menschen wie eine Randnotiz. Mit Schaufeln und Sieben werden aus dem Flussbett Schotter und Kiese als Baumaterial gewonnen. Felsblöcke werden teils mit Muskelkraft zu Dämmen geschichtet, um die Wasserströme zu lenken. Menschen durchstreifen das Flussbett auf der Suche nach seltenen Ammoniten, die als Verkörperung Vishnus gelten und die in diesem Flussabschnitt gehäuft auftreten.
Mit dem Straßenbau, der erst seit wenigen Jahren die hochgelegenen Ortschaften erschließt, beginnt sich die Landschaft zu verändern. Die Weite der Talräume wird von Bussen, Motorrädern und LKW durchquert. Die Elektrifizierung schreitet voran. Die Abgelegenheit reduziert sich radikal. Viele Menschen verbringen die Wintermonate nicht mehr in den hochgelegenen Orten, sondern in tiefergelegenen Städten, sie wechseln saisonal von der Abgelegenheit des Himalaya zur extremen Dichte der Hauptstadt Kathmandu.
Die Landschaft erscheint als Übergangszustand, ein Moment zwischen traditioneller Lebensweise und Moderne. Eine künftige Öffnung der Grenze zum von China besetzten Tibet erscheint absehbar. Sie würde den Verkehr auf der Straße radikal erhöhen, neue wirtschaftliche Möglichkeiten schaffen und unabsehbare Veränderungen für die abgelegenen Orte mit sich bringen.
Nepal, 2022
